Predigt am Reformationsfest
1. November 2020 Pfaffenhofen

Predigtwort: Mt. 10, 26-33
Es ist nichts verborgen, was nicht offenbar wird, und nichts geheim, was man nicht wissen wird. Was ich euch sage in der Finsternis, das redet im Licht; und was euch gesagt wird in das Ohr, das predigt auf den Dächern. Und fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, doch die Seele nicht töten können; fürchtet euch aber viel mehr vor dem, der Leib und Seele verderben kann in der Hölle. Kauft man nicht zwei Sperlinge für einen Groschen? Dennoch fällt keiner von ihnen auf die Erde ohne euren Vater. Nun aber sind auch eure Haare auf dem Haupt alle gezählt. Darum fürchtet euch nicht; ihr seid besser als viele Sperlinge. Wer nun mich bekennt vor den Menschen, den will ich auch bekennen vor meinem himmlischen Vater. Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, den will ich auch verleugnen vor meinem himmlischen Vater.

Liebe Gemeinde am Reformationsfest

Das Evangelium aus dem Matthäusevangelium, das wir eben gehört haben, ist heute zugleich das Predigtwort am Reformationsfest. Jesus sagt: Es ist nichts verborgen, was nicht offenbar wird, und nichts geheim, was man nicht wissen wird. Was wird einmal aus dieser gegenwärtigen Zeit offenbar werden? Dass die Natur viel besser ohne uns Menschen auskommen kann? Weil sie sich grad erholt von unserem Dasein? Dass die Natur uns damit ein Unwichtigkeitszeugnis ausstellt? Ist das unser Schicksal als Menschen?

Bis diese Fragen beantwortet werden können, ist längst etwas anderes offenbar geworden unter uns, sagt Jesus. Was ich euch sage in der Finsternis, das redet im Licht; und was euch gesagt wird in das Ohr, das predigt auf den Dächern. In Israel zurzeit Jesu wurden die flachen Dächer der Häuser als Wohnebene genutzt. War die Sonne untergegangen, saß man oben beieinander und unterhielt sich. Die Gassen zwischen den Häusern waren so eng, dass man von Dach zu Dach springen konnte. Noch schneller sprangen Neuigkeiten und Geschichten über. Was oben in der Dunkelheit der Nacht getuschelt wurde, lief wie ein Lauffeuer herum, wenn es lustig oder wichtig war. Jeder, auch die Kinder, wussten das: Was oben auf dem Dach unter dem Siegel der Geschwätzigkeit gesagt wird, ist dafür gedacht, dass der Nachbar es erfährt. Jesus sagt: So ist es auch mit dem Evangelium, dafür gedacht, es weiter zu erzählen, nicht nur einem Einzelnen ins Ohr gesagt, der es als Geheimnis für sich behält, sondern ans Licht gebracht, gedacht als Nachricht für die Menschen auf den Dächer, so wie heute Menschen auf einem realen oder virtuellen Marktplatz Neuigkeiten teilen.

Jesus sagt: Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, doch die Seele nicht töten können; fürchtet euch aber viel mehr vor dem, der Leib und Seele verderben kann in der Hölle. Was ist schlimmer: Den Leib oder die Seele töten? Ein Kind im 2. Weltkrieg wird von seinen Eltern aufs Land verschickt, weil sie nicht wollen, dass das Kind mit ihnen im Luftschutzbunker sitzt, wenn die Bomben auf die Stadt fallen. Wenn der Bunker einen Bombentreffer bekäme und sie tot wären, soll das Kind gerettet werden. Aber das Kind sagt: ‚Lieber möchte ich bei meinen Eltern im Dunklen sitzen. Mit ihnen Angst haben, aber bei ihnen sein, dass meine Mama mich hält und mein Papa mich schützt, auch wenn er mich nicht wirklich schützen kann.‘ Das ist keine erfundene Geschichte, sie ist so passiert.

Heute muss die Geschichte nur anders erzählt werden: Das Corona-Virus kann den geschwächten Leib eines alten Menschen grausam töten – ja, das ist wahr. Beim letzten Lockdown wurden Menschen in Alten- und Pflege-heimen weggesperrt, weil wir ihren Leib, ihr Leben erhalten wollten. Doch die Hände, die hätten trösten können, waren wenige oder gar keine; bloß kein Kontakt, der anstecken könnte. Aber werden wir damit nicht zu jenen, die auch noch ihre Seelen verderben lassen (…) in der Hölle ihrer Einsamkeit? Wir wissen es und unsere Alten wissen es auch, dass unsere Hände so wenig schützen können wie die Arme und Hände der Eltern im Bunker. Das Kind damals im Krieg wurde von den Eltern getrennt, ohne je gefragt zu werden, ob es selber das so will. Werden wir im erneuten Teil-Lockdown klüger werden und diesmal unsere Alten fragen, was sie wollen?

Jesus macht einen seltsamen Vergleich und zeigt, wie kostbar für Gott alle Menschenkinder sind. Und dass die einen – die Jungen – nicht kostbarer sind als die anderen – die Alten. Jesus sagt: Kauft man nicht zwei Sperlinge für einen Groschen? Dennoch fällt keiner von ihnen auf die Erde ohne euren Vater. Nun aber sind auch eure Haare auf dem Haupt alle gezählt. Darum fürchtet euch nicht; ihr seid kostbarer als viele Sperlinge.

Spatzen waren damals der ‚Geflügelbraten der kleinen Leute‘, günstig und billig auf dem Markt zu erwerben. Und dennoch – so verstehe ich Jesus – ist dem Vater im Himmel nicht einmal der Tod eines einzigen dieser so zahl-reichen Vögel egal – wie viel mehr bist du, Mensch, für deinen Vater im Himmel kostbar, wenn er sich sogar um diese Tiere kümmert? Und schließlich – augenzwinkernd, so stelle ich es mir vor – weist Jesus darauf hin, dass sogar jedes einzelne Haar auf unseren Köpfen gezählt sei, dass also kein Haar von meinem Kopf fallen kann, dass Gott es nicht weiß.

Mich hat dieser Gedanke an ein Bekenntnis erinnert, das ich als Konfirmand gesprochen habe. Davon möchte ich euch am Schluss erzählen. [Für den Gottesdienst wurde der dazugehörige Text auf Zetteln vereilt, in der Online-Version finden Sie Ihn am Ende.] Diese Frage 1 musste ich als Konfirmand auswendig lernen. 128 Fragen sind es, aber diese war die wichtigste Frage, die musste ich in- und auswendig können: Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben? In der evangelisch-reformierten Kirche von Westfalen, in der ich aufgewachsen bin und konfirmiert wurde, habe ich aus dem ‚Heidelberger Katechismus‘ gelernt. Die Frage 1 ist darin die grundlegende Frage. Alle anderen Aussagen danach sind an diese erste Aussage angehängt. Die Frage nach diesem besonderen Trost begleitet mich durch mein ganzes Leben.

Das hebräische Wort für ‚trösten‘ – nicham – hat die Grundbedeutung ‚aufatmen lassen‘. Trost befreit, weitet die ängstlich zusammengezogene Brust, das angespannt verzagte Herz. Da kann wieder etwas fließen. Buch-stäblich in Tränen über das Gesicht. Oder ein Stoßseufzer bricht sich Bahn. Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet, sagt Gott bei Jesaja (Jes. 66,13). Trost als Muttermilch Gottes, die hilft zum Leben, die nährt. Sie schenkt Geborgenheit, sie macht – wie man so sagt – groß und stark.

Ursprünglich hieß die Frage: Was ist dein einiger Trost? Ein winziger Buchstabe Unterschied nur. Doch dieser winzige Buchstabe z macht deutlich: ‚Einziger Trost‘ ist nicht im Sinne eines Alleinstellungsmerkmals gedacht. Nicht so, als sei jeder andere Trost kategorisch ausgeschlossen. Im Gegenteil: Es geht um den einen, umfassenden, alle anderen Arten von Trost übersteigenden Trost. Die Frage nach dem ‚einzigen Trost‘ geht aufs Ganze. Nicht ein bisschen Trost ist gefragt. Es geht um das, was wirklich trägt, im Leben und im Sterben. Es geht um eine Kraft, die auch dann noch standhält, wenn das Leben bedroht ist und zerbrechlich wird. Was ist nun dieser Trost? Antwort: Dass ich mit Leib und Seele im Leben und im Sterben nicht mir, sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre. Trost ist: Dass ich ... nicht mir, sondern ... Jesus Christus gehöre. Darauf kommt es im Kern an: Ich gehöre nicht mir selbst, sondern Jesus Christus. Der einzige Trost liegt in dieser Beziehung. Genau genommen: In einem Besitzverhältnis. Das ist erstaunlich, ungewohnt, befremdlich. Es klingt wohl auch beängstigend für manche Ohren. Nicht unbedingt tröstlich. Wo bleibt da meine Freiheit? Bin ich nicht eigenständig, ein Herr meiner selbst?

Der Apostel Paulus sagt einmal den Korinthern: Werdet nicht der Menschen Knechte (1. Kor. 7,23). Mit anderen Worten: Ihr gehört Christus; unterwerft euch also keinem Menschen. Niemand außer Christus hat das Sagen über mich. Kein anderer Mensch. Auch nicht ich selbst. Ein Mensch erzählt mir: ‚Was tue ich nicht alles von morgens bis abends, um vor anderen Leuten und vor mir selbst gut dazustehen! Ich versuche allen Erwartungen und Ansprüchen gerecht zu werden. Dabei sind meine eigenen oft diejenigen, die mich am meisten tyrannisieren. Ich setze mich unter Druck, um niemanden zu enttäuschen. Ich verbiege mich, schiele nach Anerkennung. Ich knechte mich selbst – und das nicht zu knapp. Ein seltsames Phänomen, widersinnig geradezu: Ich knechte mich selbst – um mich selbst zu besitzen, mein eigener Herr zu sein: Meine Leistung, meine Begabung, meine Ausstrahlung... Das lässt rotieren wie ein Hamster im Rad. In ständiger Angst, dass es am Ende doch nicht genügt. Eine absurde Knechtschaft: Ich tue alles, um Herr über mich selbst zu sein, um mir selbst zu gehören – und bin doch darin: Der Knecht meiner selbst.‘

Du gehörst Christus – das heißt: Du musst nicht alle Lücken, die du gerissen hast, selber wieder schließen. Das kannst du gar nicht. Du kannst und musst nicht alles wieder gut machen, was du verbockt hast oder schuldig geblieben bist. Du musst dich auch nicht verbiegen. Dich vor keinem Menschen beugen oder klein machen. Nicht einmal der Tod wird eines Tages die letzte Macht über dich haben. Das ist wirklicher Trost. Der einzige, einige Trost.

Lasst uns zum Schluss gemeinsam die Frage 1 und ihre Antwort sprechen. Niemand spricht es für sich selbst, sondern dass ich es den anderen sage und mir von ihnen sagen lasse:

Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?

Dass ich mit Leib und Seele im Leben und im Sterben nicht mir, sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre.

Er hat mit seinem teuren Blut für alle meine Sünden vollkommen bezahlt und mich aus aller Gewalt des Teufels erlöst.

Und er bewahrt mich so, dass ohne den Willen meines Vaters im Himmel kein Haar von meinem Haupt kann fallen, ja, dass mir alles zu meiner Seligkeit dienen muss.

Darum macht er mich auch durch seinen Heiligen Geist des ewigen Lebens gewiss und von Herzen willig und bereit, ihm forthin zu leben. Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Eberhard Hadem 31. Oktober 2020