Predigt am 8. Sonntag n. Trinitatis
2. August 2020 Bauwagen-Gottesdienst Pfaffenhofen



Predigtwort: Joh. 9, 1-31

Liebe Gemeinde

Stellen Sie sich bitte vor, Sie säßen jetzt gerade in einem Theater und es würde ein antikes Drama aufgeführt vom Evangelisten Johannes. Ein Drama, das, so klein es ist, dennoch bis zum Anfang der Welt reicht und bis zu ihrem Ende und darüber hinaus. Wenn Sprachwitz, Ironie und Missverständnis eine Komödie kennzeichnen, dann ist dieses Drama, von dem wir gleich hören, eine kleine göttliche Komödie in drei Akten. Die Hauptpersonen: Ein Blindgeborener und Jesus. In Nebenrollen: Die Eltern des Blinden. Zum antiken Drama gehört der Chor, hier dargestellt durch die Jünger, die Nachbarn und die Pharisäer. Also: 1. Akt – Vorhang auf!

Und Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war. Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: „Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist?“

In der gesamten Antike ist man sich einig, dass Blinde nicht von Ärzten, sondern nur von einem Gott geheilt werden können. Und wer nicht geheilt werden kann, ist selber schuld. Die Jünger sehen also einen hoffnungslosen Fall. Wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern? Jemand muss doch schuld sein. An dieser Haltung hat sich in 2000 Jahren nicht viel geändert. Ein riesiges Feld tut sich auf. Viele wünschen sich im Innersten: Es muss doch eine Gerechtigkeit walten, die Ausgleich schafft für Mangel und Schuld. Auch, wenn nötig, Buße für Schuld. Lieber kurz und zur Not auch schmerzlich bestraft werden, wenn es dann nur wieder gut ist.

Dieser Sühnegedanke hat eine lange Geschichte. Als könne man mit Krankheit und körperlichem Gebrechen irgendeine Schuld aus dem vorigen Leben bezahlen. Manche halten dieses Karma-Denken ja für tröstlich: Mein Gebrechen, mein Leid ist für was gut, sie macht den Schaden meiner Vorfahren wett. Diese Idee gibt dem Leid scheinbar einen Sinn, auch wenn der Mensch im Karma irgendwie bedeutungslos oder nur noch ein Objekt geworden ist. Das ist es, was mich stört, dass solche Gedanken irgendwie an den Betroffenen vorbeigehen, sich eine Unschärfe einstellt. Die Frage nach der Schuld sieht nicht den, der krank ist. Jesus dagegen sieht hin. Der Evangelist Johannes unterscheidet genau in seiner Erzählung, weil Jesus selbst genau hinschaut. Jesus sieht keinen Blinden, sondern einen anthropos, einen Menschen. Das ist zuerst und vor allem zu sagen: Es ist ein Mensch, über den wir reden. Und Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war. Jesus unterscheidet weiter, er scheidet Licht und Finsternis, Tag und Nacht, wie Gott in seiner Schöpfung:

Jesus antwortete: „Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm. Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt.“

Da war doch was, im Anfang, bei der Schöpfung, als das Licht von der Finsternis geschieden wurde. ‚Im Anfang‘ heißt auf lateinisch: in principio – also: im Prinzip ist es schon immer da, es geschieht zu jeder Zeit, nämlich das, von dem am Anfang erzählt wurde. Nicht anders, als dass Licht von Finsternis geschieden wird. Aber wie genau?

Als er das gesagt hatte, spuckte er auf die Erde, machte daraus einen Brei und strich den Brei auf die Augen des Blinden. Und er sprach zu ihm: „Geh zum Teich Siloah – das heißt übersetzt: Gesandt – und wasche dich!“ Da ging er hin und wusch sich und kam sehend wieder.

Siloah ist ein besonderer Teich mit einem besonderen Namen, der übersetzt lautet: Der Gesandte. Der Teich selbst ist gesandt, also bestimmt zu heilen. Und der, der dort hinkommt, ist – auch ein Gesandter. Der sich waschen soll, um sehen zu können, ist gesandt. Wenn der Teich ihn wieder entlässt, was wird aus dem werden, von dem wir keinen Namen haben, aber wohl wissen, dass er ein Mensch ist wie wir? Hat er eine Zukunft? – Schauen wir hinein in den 2. Akt des Schauspiels: Auftritt des Chores! – Vorhang auf!

Die Nachbarn nun und die, die ihn früher als Bettler gesehen hatten, sprachen: „Ist das nicht der Mann, der dasaß und bettelte?“ Einige sprachen: „Er ist's“, andere: „Nein, aber er ist ihm ähnlich.“ Er selbst aber sprach: „Ich bin's.“ Da fragten sie ihn: „Wie sind deine Augen aufgetan worden?“ Er antwortete: „Der Mensch, der Jesus heißt, machte einen Brei und strich ihn auf meine Augen und sprach: ‚Geh zum Teich Siloah und wasche dich!‘ Ich ging hin und wusch mich und wurde sehend.“ Da fragten sie ihn: „Wo ist er?“ Er antwortete: „Ich weiß es nicht.“ Da führten sie ihn, der vorher blind gewesen war, zu den Pharisäern. Es war aber Sabbat an dem Tag, als Jesus den Brei machte und seine Augen öffnete. Da fragten ihn auch die Pharisäer, wie er sehend geworden wäre. Er aber sprach zu ihnen: „Einen Brei legte er mir auf die Augen, und ich wusch mich und bin nun sehend.“

Der Mensch, der blind geboren war, wird zum Gesandten. Auch er unterscheidet genau in seiner Antwort: Der Mensch, der Jesus heißt, machte einen Brei und strich ihn auf meine Augen und sprach: Geh zum Teich Siloah und wasche dich! Ganz schön frech, dieser Mensch – der Jesus heißt, ist auch für ihn zuallererst ein Mensch. Als wolle der Blindgeborene sagen: ‚Er, dieser Mensch mit Namen Jesus, der tut, was eigentlich jeder Mensch tun sollte: heilen, lindern, trösten, aufrichten, Aufgabe geben, vorwärts blicken.‘

Ich stelle mir vor, wie er da steht und spricht im Kreis des Chores. Er ist ein Provokateur. Er stellt in Frage, was Jünger, Nachbarn und die Pharisäer denken. Als wolle er sagen: ‚Was diskutiert ihr über die Herkunft meines Mangels? Sprecht doch über meine Zukunft – es sollen die Werke Gottes an mir offenbar werden, hat Jesus gesagt, ich habe es genau gehört. Ich bin keine Frucht der Sünde, sondern ich bin Saat der Hoffnung. Ja, es ist wahr: Blindgeborensein ist ein Mangel. Aber wem nützt es, wenn ihr das Vergangene reparieren wollt? Wäre mein Mangel Strafe, könnte jeder nur hilflos sagen: Bleib stark und halte durch. Doch Jesus hat mich umgedreht, hat mich gesandt zum Teich Siloah. An mir soll das gute Tun Gottes offenbar werden. Sollte sich nicht auch euer Denken nach vorne drehen? Leid ist da, um es zu lindern, Hunger soll gestillt werden, Kranke sollen heil werden – wenigstens legt ihnen die Hände auf, dass es besser wird mit ihnen! Lindern – ist das nicht das Gebot der Stunde? Ist es nicht das, was von Anfang an, im Prinzip, zu denken und zu tun ist?‘ – Ja, eigentlich schon. Aber stattdessen deutet sich Unglaubliches an: Ein Mensch ist gesund geworden, aber dunkle Wolken brauen sich zusammen. Nicht alle freuen sich über die dramatische Heilung. Die Eltern des ehemals Blinden wittern schon das drohende Unglück.

Da sprachen einige der Pharisäer: „Dieser Mensch ist nicht von Gott, weil er den Sabbat nicht hält.“ Andere aber sprachen: „Wie kann ein sündiger Mensch solche Zeichen tun?“ Und es entstand Zwietracht unter ihnen. Da sprachen sie wieder zu dem Blinden: „Was sagst du von ihm, dass er deine Augen aufgetan hat?“ Er aber sprach: „Er ist ein Prophet.“ Nun glaubten die Juden nicht von ihm, dass er blind gewesen und sehend geworden war, bis sie die Eltern dessen riefen, der sehend geworden war, und sie fragten sie und sprachen: „Ist das euer Sohn, von dem ihr sagt, er sei blind geboren? Wieso ist er nun sehend?“ Seine Eltern antworteten ihnen und sprachen: „Wir wissen, dass dieser unser Sohn ist und dass er blind geboren ist. Aber wieso er nun sehend ist, wissen wir nicht, und wer ihm seine Augen aufgetan hat, wissen wir auch nicht. Fragt ihn, er ist alt genug; lasst ihn für sich selbst reden.“ Das sagten seine Eltern, denn sie fürchteten sich vor der jüdischen Obrigkeit. Denn schon hatte die Obrigkeit beschlossen: ‚Wenn jemand ihn als Christus – als Messias – bekenne, der solle ausgestoßen werden aus der Synagoge.‘ Darum sprachen seine Eltern: „Er ist alt genug, fragt ihn selbst.“

Angst haben sie, die Eltern. Wendet euch doch bitte selbst an unseren Sohn. Klug sind die Eltern, auch wenn wir vielleicht meinen, sie hätten doch ihren Sohn schützen sollen. Wovor denn? würden sie uns vielleicht zurückfragen. Was an Schlimmerem kann unseren Sohn schrecken, wenn er von Geburt an blind war und nun sehend geworden ist? – Dass sie ihren Sohn schon richtig einschätzen, werden wir gleich sehen, der sich gut mit Worten wehren kann. Ironisch wird er, nichts hat er zu verlieren, aber viel zu gewinnen. Er bestimmt, ob Komödie oder Tragödie; offen ist, was es für wen ist. Er macht sich lustig über den Chor. Das kommt gar nicht gut an. Schauen wir hinein in den 3. Akt: Erneuter Auftritt des Menschen, der blind gewesen war und jetzt geheilt ist! – Vorhang auf!

Da riefen sie noch einmal den Menschen, der blind gewesen war, und sprachen zu ihm: „Gib Gott die Ehre! Wir wissen, dass dieser Mensch – also Jesus – ein Sünder ist. Er antwortete: „Ist er ein Sünder? Das weiß ich nicht; eins aber weiß ich: dass ich blind war und bin nun sehend.“ Da fragten sie ihn: „Was hat er mit dir getan? Wie hat er deine Augen aufgetan?“ Er antwortete ihnen: „Ich habe es euch schon gesagt, und ihr habt's nicht gehört! Was wollt ihr's abermals hören? Wollt ihr auch seine Jünger werden?“ Da beleidigten sie ihn und sprachen: „Du bist sein Jünger; wir aber sind Moses Jünger. Wir wissen, dass Gott mit Mose geredet hat; woher aber dieser Jesus ist, wissen wir nicht.“ Der Mensch antwortete und sprach zu ihnen: „Das ist verwunderlich, dass ihr nicht wisst, woher er ist, wenn er meine Augen aufgetan hat. Wir wissen, dass Gott die Sünder nicht erhört; sondern den, der gottesfürchtig ist und seinen Willen tut, den erhört er. Von Anbeginn der Welt an hat man nicht gehört, dass jemand einem Blindgeborenen die Augen aufgetan habe. Wäre dieser nicht von Gott, er könnte nichts tun.“ Sie antworteten und sprachen zu ihm: „Du bist ganz in Sünden geboren und lehrst uns?“ Und sie stießen ihn hinaus.

Noch einmal dreht der, der vom Teich Siloah zu ihnen gesandt wurde, die Denkweise der anderen Menschen herum. Noch einmal führt er ihnen vor Augen, dass ihre Argumente nicht ihre Sicht, sondern im Gegenteil seine Sicht unterstützen: ‚Gott erhört den, der seinen Willen tut. Wäre Jesus nicht von Gott, könnte er nichts tun. Denn von Anbeginn der Welt an kann kein Mensch einen Blinden heilen. Dieser Jesus hat es getan, also kann er nur von Gott selbst sein.‘ Uiih, wenn sie selber belehrt werden, da sind sie empfindlich, die Theologen, das weiß ich aus eigener Erfahrung: ‚Wer ist denn dieser Dahergelaufene‘, denken sie, ‚der von sich behauptet, er sei ein Gesandter? Wer hier wen gesandt hat, wissen wir doch am allerbesten, denn wir sind doch die Gesandten des Herrn, oder?‘ Sie stießen ihn aus – noch einmal wird er ausgegrenzt. Deshalb kommt noch einmal der, der den Anbeginn der Welt kennt, der Licht von Finsternis scheidet, der sucht, nach ihm fragt und ihn findet:

Es kam vor Jesus, dass sie ihn ausgestoßen hatten. Und als er ihn fand, fragte er: „Glaubst du an den Menschensohn?“ Er antwortete und sprach: „Herr, wer ist's? dass ich an ihn glaube.“ Jesus sprach zu ihm: „Du hast ihn gesehen, und der mit dir redet, der ist's.“ Er aber sprach: „Herr, ich glaube, und betete ihn an.“

Für mich ist das der Höhepunkt des Dramas. Aus der Perspektive der anderen ist es der tiefste Fall, so wie es sich in einem Drama gehört. Ein Mensch, ausgestoßen, fällt auf die Knie, auf den Boden. Betet den an, den die anderen nur für die Personifikation des Bösen halten können, weil er nicht in ihren engen Denkhorizont passt. Doch der tiefe Fall ist der Höhepunkt. Da unten am Boden, näher kann kaum ein Mensch Gott kommen. Der Mann glaubt. Der Vorhang fällt. Was nun weiter zwischen den beiden geschieht, geht uns nichts an. Zum Schluss gibt es noch einen Epilog, Jesus tritt vor den Vorhang:

Und Jesus sprach: Ich bin zum Gericht in diese Welt gekommen, damit, die nicht sehen, sehend werden, und die, die sehen, blind werden. Das hörten einige der Pharisäer, die bei ihm waren, und fragten ihn: „Sind wir denn auch blind?“ Jesus sprach zu ihnen: Wärt ihr blind, so hättet ihr keine Sünde; weil ihr aber sagt: Wir sind sehend, bleibt eure Sünde.

Liebe Gemeinde, jedes Drama wird für die Zuschauer inszeniert. Der Epilog spricht uns Zuschauer direkt an. Und es ist wie im Theater. Wir könnten gehen, wenn uns die Sache kalt lässt. Wir könnten uns ärgern über das, was wir gehört und gesehen haben. Wir könnten versuchen, die Sache aus der Distanz zu betrachten.

Aber das wird schwierig, denn er spricht uns ja direkt an. Die Scheinwerfer sind auf uns gerichtet. Schließen wir die Augen, weil es zu hell wird? Immerhin: Sogar die Pharisäer haben eine Sehnsucht, sonst würden sie nicht fragen: Sind wir denn auch blind? Sich in Frage stellen, ist schon viel.

Gibt es bei uns eine Sehnsucht? Kann ich mich in Frage stellen? Wo bin ich blind? Sind wir blind? Und: Traue ich mich, zu glauben? Mich hinzugeben? Jesus geht vorbei und sieht uns an, uns, die wir zuallererst Menschen sind. Unser Drama hat begonnen. Im Prinzip. So wie bei allen guten Anfängen. Gott schenke sie euch und mir.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Eberhard Hadem 1. August 2020 (nach einer Idee von Pfrin. Dr. Angela Rinn)



Jesus heilt
einen Menschen

Der blind
geboren war